ERWARTUNGEN
Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube. Anne Frank, Tagebuch, Samstag 15. Juli 1944
In der Soziologie beschreibt der Begriff Erwartung die Annahme eines Handelnden darüber, was ein anderer oder mehrere andere Personen tun werden oder würden. Maßgeblich sind dafür die Erfahrungen des Menschen, mit deren Hilfe er gelernt hat, durch Beobachten vorausschauen zu können. Dadurch kommt der Erwartung die Bedeutung als Antrieb für gesellschaftliches Tun und Handeln zu. Das Erwartete ist das, was noch nicht präsent ist, deshalb kann es nicht in Erscheinung treten.
Zuversicht, Hoffnung und Gewissheit sind Projektionen auf die Voraus-Kenntnis, wie sie Prognosen eigen sind, mit deren Hilfe Aussagen über Ereignisse, Zustände oder Entwicklungen in der Zukunft gewagt werden. Die Antike kennt das Orakel, das innerhalb eines festgelegten Rituals Antworten auf Zukunfts- oder Entscheidungsfragen gab, die zumeist von transzendentem göttlichen Offenbarungscharakter waren. Der Zyklus Erwartungen gibt keine Antworten auf zukünftige ungestellte Fragen. Die 20 Bilder spiegeln vielmehr den immer gegenwärtigen Stand von Befindlichkeiten, Einsichten, lapidaren Einschätzungen und Abwägungen, wenn es um den schmerzhaften Umgang mit Verlusten geht, auch wenn es sich um die eigene Existenz handelt. Immer geht es darum. Auf quadratischen, verwaschenen grauen Gründen behauptet sich eine verknappte Bildsprache, deren Vokabular bemüht ist, sich prägnant auszudrücken, ohne Formen festhalten zu wollen. Alles scheint in Bewegung zu sein, selbst die geschriebenen Kommentare greifen nicht in die Deutung des Geschehens ein.
Die Arbeiten bilden verschiedene Momente des Dazwischen-Seins ab. In der Balance des Augenblicks formulieren die Titel keine Vorausschau auf eine zu erhoffende Fülle von normativen Erwartungen. Ähnlich dem Moment, hat der Augenblick keine spezifische Zeitspanne. Er kann lang sein in der Entschleunigung, bis die Erwartungen sich erfüllen zwischen zwei Atemzügen. Oder auch nicht. In 20 Momenten der Schwebe zwischen Lebenswirklichkeit und Hoffnung reflektieren die Bilder Zustände des nicht Vorstellbaren, das uns die 15 jährige Anne Frank zu unserer Verantwortung am 15. Juli 1944 überlassen hat.
Die Eröffnung wird musikalisch durch Regionalkantor Bernhard Nick an der Orgel und durch Herrn Reinhold Müller an der Violine begleitet.